Gefühlsstau? Wie unausgesprochene Bedürfnisse unser Verhalten prägen
«Alles gut», sagen wir – und wissen, dass es nicht stimmt. Wir wollen keinen Streit, nicht «kompliziert» wirken, professionell bleiben. Doch unter der Oberfläche arbeitet unser Körper auf Hochtouren: Stresshormone, Anspannung, ein dumpfer Druck im Magen. Gefühle, die wir nicht ernst nehmen, sind wie ungelesene Nachrichten: Sie warten, bis wir hinschauen.

Markus ist 42 Jahre alt, Projektleiter in einer grossen Firma. Er gilt als ruhig, rational und verlässlich. «Ich bin nicht so emotional», sagt er oft, wenn jemand nach seinen Gefühlen fragt. An einem Montagmorgen teilt ihm ein Kollege mit, dass er eine wichtige Deadline erneut nicht einhalten kann. Markus atmet tief durch, lächelt knapp und sagt: «Kein Problem, das kriegen wir schon hin.» Innerlich aber ist es alles andere als «kein Problem». Seine Schultern spannen sich an, der Nacken wird hart, der Magen zieht sich zusammen. Zu Hause reagiert er gereizt auf Kleinigkeiten und in der Nacht schläft er schlecht.
Gefühle sind Chemie – ganz unromantisch
Gefühle wirken oft wie etwas Nebelhaftes, kaum Greifbares. In Wirklichkeit sind sie eine hochpräzise chemische Reaktion unseres Körpers auf das, was wir erleben – oder auf das, was wir denken. Sie zeigen uns: Hier ist ein Bedürfnis, das Beachtung will. Bei Markus heisst das: Sein Körper reagiert, weil er sich Verlässlichkeit und Unterstützung wünscht. Der Ärger ist also kein Makel, sondern ein klarer Hinweis: «Etwas stimmt für mich gerade nicht.»
Gefühlsstau – wenn wir Bedürfnisse übergehen
Das Problem beginnt, wenn wir diese Signale nicht ernst nehmen. Markus hat gelernt, Gefühle zu vermeiden. In seiner Welt gelten sie als unprofessionell. Also lächelt er, obwohl sein Körper in Alarmmodus verfällt. Das Ergebnis? Gereiztheit, sinkende Motivation, Schlafprobleme – und manchmal auch passive Aggressivität, wenn die aufgestauten Gefühle nur indirekt ihren Weg nach draussen finden.

Pseudogefühle – und was sie verdecken
Und wenn Markus dann doch einmal etwas sagt, äussert er seinen Frust oft in indirekten Vorwürfen wie: «Ich fühle mich nicht respektiert» oder «Ich fühle mich hängen gelassen». Was als Gefühl getarnt daherkommt, ist in Wahrheit ein direkter Vorwurf. Es ist keine Ich-Botschaft, sondern eine Du-Botschaft: «Du respektierst mich nicht» oder «Du lässt mich hängen!»
In der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) unterscheiden wir zwischen echten Gefühlen und sogenannten Pseudogefühlen. Pseudogefühle sind immer mit unserem wertenden Denken verknüpft. Sie drücken Gedanken, aber keine Gefühle aus.
Um an die echten Gefühle (Gefühle-Liste) heranzukommen, hilft oft ein kleiner Kunstgriff:
«Wenn ich denke, ich werde nicht respektiert» – im Zusammenhang mit dem Auslöser «Eine Deadline ist nicht eingehalten» – wie geht es mir dann?»
Dann bin ich vielleicht gestresst, frustriert oder angespannt. Echte Gefühle finden in mir drinnen statt – dafür braucht es niemanden, der mir etwas antut. Wenn ich den Fokus bei mir und meinen Bedürfnissen behalte, kann ich mich fragen: «Was brauche ich jetzt?» In diesem Fall: Verlässlichkeit. (Bedürfnis-Liste)
Wenn Markus seinem Gegenüber dies transparent macht, klingt es anders: «Heute ist die Deadline für diese Arbeit und ich höre von dir erneut, dass die Aufgabe nicht erledigt ist. Ich bin gestresst und brauche Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit. Was hast du für einen Vorschlag, wie wir den Termin trotzdem einhalten können?» Das ist kein Angriff, sondern eine Einladung zur Lösung.
Gefühle verschwinden nicht, nur weil wir sie nicht aussprechen. Sie stauen sich, suchen sich andere Wege – und nicht immer auf eine Weise, die uns guttut. Wer mutig hinschaut, merkt: Gefühle sind keine Schwäche, sondern der direkteste Draht zu dem, was wir brauchen.
Wenn du lernen möchtest, wie Du Deine echten Gefühle erkennst, diese von Pseudogefühlen unterscheidest und so klar formulierst, dass Verbindung statt Distanz entsteht – dann lohnt es sich, genauer hinzuschauen und sich genauer auszudrücken. Manchmal beginnt Veränderung mit einem einzigen, ehrlichen Satz.
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